Susanne Wagner
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Mikropausen⏳Advent

«Das verlorene Gähnen» von Franz Hohler

Das verlorene Gähnen: Mannzgöggeli mit Fragezeichen und Loch im Bauch

​Wann kann einem das Gähnen abhanden kommen? Welches Buch sollte man keinesfalls lesen, wenn man nicht gähnimpotent werden will? Wie fühlt es sich an, nach 40 Jahren Gähnimpotenz wieder zu gähnen?

Fall in die Gähnimpotenz

Ein junger Bursche liest Ciceros «Über das Alter», will dabei beiläufig herzhaft gähnen …

«… und stellte fest, dass er nicht mehr gähnen konnte. Wohl riß er seine beiden Kiefer auseinander, dass es knackte, wohl sog er durch das ganze Oval seines geöffneten Schlundes Luft ein, allein sie senkte sich nicht ausweitend in seinen schmächtigen Brustkorb, sondern wurde schon im oberen Teil der Luftröhre entschieden zurückgewiesen, ja womöglich nicht einmal in denselben eingelassen.»

Das verlorene Gähnen können ihm weder seine Eltern mit dem Heilungsversuch des Vorgähnens noch die Ärzte mit ihren beschwichtigenden psychiatrischen Ratschlägen zurückgeben. So beschliesst Piet-Fritz Alertis, sich damit nicht abzufinden, sondern selbst Arzt zu werden und seinem Gähnproblem auf den Grund zu gehen. Für die Menschheit entpuppt sich dies als Segen, ihm selber nützt es nichts. Weder das Dichten über das Gähnen, naturwissenschaftliche Studien, ethnologische und sprachwissenschaftliche Forschungen, 84 000 Yoga-Positionen – nichts bringt ihm das Gähnen zurück.

Aus: Hohler (1970, S. 58-65)

Erlösung aus der Gähnimpotenz

Nach vierzig Jahren merkt unser Gähnverlustiger plötzlich, dass er sich nie darum gekümmert hat, in welchem Moment ihm das Gähnen abhanden gekommen war. Im Estrich besorgt er sich sein zerknittertes Exemplar von Senecas «Über das Alter» und beginnt erneut zu lesen. Er liest, bis ihn die Langeweile überkommt:

«… geschah es, daß sich seine Kiefer sanft, aber unwiderstehlich auseinanderschoben und, während sich der Adamsapfel bis tief unter die Gurgel verkroch, soviel Luft in die Lungen einströmen ließen, als müßten alle versäumten Gähner und Gähnerchen in einem einzigen Mal nachgeholt werden. Mit einer ihn bis ins Mark durchschauernden Wollust gab sich der ergraute, hart geprüft Prof. Dr. Piet-Fritz Alertis dem lange entbehrten Gefühl hin, und Tränen der Freude glänzten in seinen Augen, als er auf dem sekundenlangen Gipfelpunkt des Vorgangs diesen runden Druck im hinteren Gaumen hatte, … dieses süße Ziehen, das sich in beseligendem Crescendo über die Rippen bis auf die Bauchmuskulatur und Flanken fortsetzt und das sich schließlich im Ausströmen der Luft auflöst, welches er mit einem wohlbehäglichen Grunzlaut geschehen ließ[.]»

Die Empfindung des Gähnaktes ist so «gluschtig» beschrieben, dass ich sofort gähnen musste (auch wenn das letzte herzhafte Gähnen nicht 40 Jahre sondern eher vier Minuten her ist).

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