Der Ansteckung begegnen wir im Alltag ständig: Lachen und Lächeln, aber auch Weinen, Husten und Gähnen können «ansteckend» sein. Bei diesen Reaktionen auf das Verhalten anderer Menschen bewegen wir uns im «zwischenmenschlichen Resonanzraum». Da sind wir ständig im Kontakt und kommunizieren mit unbewusstem Spiegeln mit unseren Mitmenschen.
Inhalt
Empathie erleben: wie geht das?
Resonanz- und Spiegelphänomene, wie sie auch beim ansteckenden Gähnen wirken, können mit den «Spiegelnervenzellen» oder «Spiegelneuronen» erklärt werden. Diese wurden in den 1990ern von Giacomo Rizzolatti entdeckt.
«Warum ich fühle, was du fühlst»
Joachim Bauer beschreibt in seinem Buch «Warum ich fühle, was du fühlst», wie diese Zellen im Gehirn zu feuern beginnen, sobald wir eine bestimmte Aktivität ausführen.
Nicht nur, wenn wir etwas selber tun, sondern auch, wenn wir jemanden bei einer Handlung beobachten. Auch Hören von charakteristischen Geräuschen zu einer bestimmten Aktivität bringt die Spiegelneuronen zum Feuern. Ja, es genügt schon, eine Handlung in der eigenen Vorstellung zu erleben!
… aus Erfahrung
Am besten funktioniert das mit dem, was wir aus Erfahrung schon kennen. Und so ermöglichen uns die Spiegelneuronen ein intuitives Verstehen (Theory of Mind) des Verhaltens unserer Mitmenschen.
Denn wir sind Wesen, die über ein so weit entwickeltes Gehirn verfügen, dass das Bewusstsein über sich (self-awareness) und ein Bewusstsein über die anderen möglich ist (other-awareness).
Empathie und Gähnen
Die Fähigkeit zur Empathie ist eine komplexe Angelegenheit im zwischenmenschlichen Resonanzraum. Empathie wird auch Mitgefühl genannt und umfasst die Fähigkeit einer Person, die Befindlichkeit einer anderen Person wahrzunehmen, zu teilen und auch davon beeinflusst zu werden.
Wer lässt sich anstecken?
In Studien zur Ansteckungsanfälligkeit durch die Wahrnehmung von Gähnen bei anderen wurde festgestellt, dass Personen mit höherer Empathiefähigkeit sich auch leichter mit Gähnen anstecken lassen.
Es gibt auch (vor allem neuere) Studien, die jedoch genau diesen Befund widerlegen oder abschwächen, weil sie die Methode und/oder die Resultate der Empathie-Studien in Frage stellen.
Jemandem beim Gähnen zuzuschauen hat aber zweifellos eine hohe Ansteckungskraft. Etwa 60-75% aller gesunden Menschen gähnen einem Vorgähner nach (Walusinski, 2018).
Olivier Walusinksi ist ein französischer Arzt und einer der aktivsten Gähnforscher der letzten Jahrzehnte. Auf seiner Seite zum Gähnen Le bâillement – Yawning stellt er eine Umfrage bereit, die bis dato schon von 7892 Personen ausgefüllt wurde: 5833 Personen sagen, dass sie bei anderen Gähnen auslösen und 5250 Personen werden vom Gähnen anderer leicht angesteckt.
Auch wenn sich die Forscher bisher über die verschiedenen Gründe, warum wir durch Ansteckung gähnen nicht ganz einig sind – erhöhte Wahrnehmung des zwischenmenschlichen Resonanzraums ist eine mögliche Erklärung dafür. Dazu gehört auch die Empathie.
Gähnen verbindet
Empathie zeigen mit Gähnen: Werner Bartens erklärt in «Empathie. Die Macht des Mitgefühls» wie Gähnen verbindet und Freundschaft stärken kann. Je enger die emotionale Bindung, je näher der Vorgähner einem steht, desto eher gähnt man mit.
Wer gähnt mit?
Probiere es aus! Lassen sich die unbekannten Personen im Zugabteil von dir anstecken? Gähnen die Familienmitglieder oder Freundinnen bereitwilliger mit als die Unbekannten, wenn du den Auftakt dazu geben? Und nach einem hemmungslosen, genüsslichen Gähnen fühlst du dich selbst vielleicht auch ein Stück weit mehr verbunden?
Damit ist auch die Forschung einverstanden: Gähnen ist umso ansteckender, wenn es an einem gleichartigen Wesen, zu dem man eine enge Bindung hat, beobachtet wird. Ob sich Frauen leichter anstecken lassen, ist noch nicht bewiesen.
Aus Mitgefühl mitgähnen?
Anfällig für ansteckendes Gähnen sind jedoch Personen, die sich sozialen Normen bereitwillig fügen und sich leicht von Werbebotschaften blenden lassen.
Auch Menschen, die zu Mitgefühl und einem differenzierten Bewusstein über sich selber fähig sind, sollen sich leichter anstecken lassen – das ist der Grund, warum das ansteckende Gähnen mit Empathiefähigkeit in Verbindung gebracht wird. (Walusinksi, 2018).
Inspiration zum Gähnen
Dieser Artikel erschien erstmals 2018 in meiner Reihe «Newsletter zum Gähnen» mit Themen rund ums Gähnen, die von Andrew NewbergsListe «12 wichtige Gründe zu gähnen» in «Der Fingerabdruck Gottes» inspiriert waren.
Gähnen und Empathie mit sich selbst
Das Gähnen unterstützt dabei, den Kontakt zu sich im Hier und Jetzt über die Körperempfindung herzustellen.
- Gähnen erleichtert z.B. den Übergang in eine Meditation. Das Gähnen entsteht in der spielerischen Bewegung und beim Dehnen. Es unterstützt darin, den Kontakt zu sich herzustellen.
- Über diese Körperwahrnehmungen, die bei jedem Menschen einzigartig sind und sich immer wieder neu und anders zeigen, wird die Aufmerksamkeit und Neugier auf das gelenkt, was gerade ist.
- Dieses Lauschen nach innen ist eine Grundlage, um den eigenen inneren Raum zu entdecken.
Deshalb empfiehlt die Meditationsexpertin Marianne Bentzen das Gähnen als Einstieg für die Meditation. In ihrem Buch «Neuroaffektive Meditation – Grundlagen und praktische Anleitungen für Psychotherapie, Alltagsleben und spirituelle Praxis. Meditation im Dialog mit Neurobiologie und Entwicklungspsychologie» findest du eine genaue Anleitung dazu (Leseprobe und mp3).
Wecke deinen Atemsinn mit einer Zufallsmikropause 🥱
Atemfluss statt Atemstau
Erlebe dich ⏳ in einer Minute zwischendurch
- als ganzer Mensch
- immer wieder neu
- mit allen Sinnen
… damit es dir gut geht vor dem Bildschirm 👣
Aktualisiert: 23. September 2021 / 9. September 2022 von Susanne Wagner