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Meine Wahrnehmung ist richtig!?

Wahrnehmung. Meine ist richtig. Steinplatten mit Titelschriftzug

Das hat mich schon als Kind beschäftigt: Was ich sehe, höre usw., das kann ich nie mit jemandem teilen, denn jemand anders ist nicht ich. Heute weiss ich: Austausch ist möglich! Trotzdem ist jeder und jede von uns in der eigenen Wahrnehmung einzigartig. Das darf so sein und kann zu einer persönlichen Quelle von Atemkraft und Lebensfreude werden.

Bis vor zehn Jahren habe ich mich kaum über meine Wahrnehmungserfahrungen ausgetauscht und diese Ressource in mir brach liegen lassen. Ich konnte Erlebnisse nicht einordnen, wollte sie in richtig und falsch einteilen und fühlte mich unsicher dabei, mit anderen Menschen über die erfahrene innere Vielfalt zu reden.

«Meine Wahrnehmung ist richtig!» hat nichts mit Rechthaberei zu tun

Mit Wahrnehmung meine ich hier ein Erleben, das nachhallt. Das kann geschehen, weil es so eindrücklich ist und aufrüttelt und innerlich berührt (z. B. Alptraum) oder weil es in einer aufmerksamen Haltung erfahren wird, die dem Erleben Zeit und Raum gibt, im Bewusstsein anzukommen (z. B. durch Nachspüren und Reflektieren).

Die Wahrnehmung eines Menschen verschafft ihm oder ihr Erlebnisse, die

  • persönlich, individuell und einzigartig erfahren werden
  • zwar kommuniziert und ausgetauscht, aber nicht repliziert oder reproduziert werden können
  • ist für die erlebende Person immer «wahr» und in jedem Moment neu sind
  • der Person wichtige Informationen über Aussenraum, Innenraum, Umfeld und Situation bereitstellen
  • jemand für sich hinterfragen kann oder die zu einer persönlichen Ressource wird
  • im Traum oder in der «Realität» vorkommen
  • die über unterschiedliche Sinneskanäle stattfinden

Diese Liste ist weder abschliessend, umfassend noch allgemeingültig. Ergänze gerne in eineim Kommentar, was Wahrnehmung in diesem Sinne für dich charakterisisert oder erzähl mir, in welchem Punkt du dich wiedererkennst.

Wie viel Wert hat ein Stein?

Als Kind habe ich in den Ferien Steine gesammelt. Sie waren wunderschön, haben in den verschiedensten Schattierungen geglitzert und ihre Oberflächen schmeichelten meiner Hand mit kühler Glätte, harter Grobkörnigkeit oder bunt zusammengewürfelter Verspieltheit.

So weit, so gut. Meine Freude hat mich erfüllt. Ich wollte die Steine verkaufen, damit sie anderen Menschen auf Freude machten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ein Onkel hat aus Mitleid einen Stein kaufte. (Und wohl: damit ich endlich Ruhe gab.)

Ich merkte: Die Steine waren für andere Menschen nichts wert. Sie waren eine Last und mein Beharren auf ihrer Kraft und Schönheit langweilte die Erwachsenen (und die fremden Menschen sowieso). Änderte das den Wert der Steine für mich? Nein. Doch mein Drang, mich mitzuteilen dazu und die ausgewählten Steine auch physisch zu teilen, das liess ich bald bleiben.

«Es ist nicht kalt.»

Ein Schlüsselerlebnis für mich war das Beobachten, wie Menschen über die Temperaturwahrnehmung reden. Menschen im selben Raum nehmen die Temperatur darin unterschiedlich wahr. Das Thermometer misst z. B. 21 °C. Einer sagt: «Ich friere.» Ein anderer sagt: «Es ist nicht kalt.»

Was stimmt den nun? In der eigenen Wahrnehmung hat jeder für sich recht. Der eine, der friert, findet es gerade kalt. Der andere, dem nicht kalt ist, findet es wohl gerade angenehm. So kommen Zustände in der Umgebung in der Wahrnehmung der Individuen komplett unterschiedlich im Bewusst sein an.

Die Reaktion darauf fällt ebenfalls unterschiedlich aus: Wer friert, findet das wohl unangenehm. Wer gerade nicht friert, zeigt mit der eigenen Reaktion den Grad von möglicher Empathie.

«Tu nicht so empfindlich!»

Heute finde ich es übergriffig und anmassend, wenn mir da jemand sagt. Schliesslich ist es nichts, was ich absichtlich tue und ausserdem impliziert es, dass es ein richtiges Mass gibt, dass allgemeingültig ist.

Die Skala der Empfindlichkeit? Im Alltag hörte ich oft «empfindlich», wenn ich mein Erleben teilte, das differenziert und wahrnehmungsstark war. Vielleicht auch mit Wahrnehmungskanälen und Sinnen erlebt, die über die fünf klassichen Sinne hinausgehen.

Beim Erleben von Temperatur im Raum (oder z. B. Wasser) kann sich wohl jeder an eine Situation im Leben erinnern, in der ihm oder ihr genau das passiert ist: Die eigene Wahrnehmung unterschied sich von der Wahrnehmung der anderen Menschen. War das schlimm? Wohl kaum. Ausser, wenn eine Wertung dazukommt, die signalisiert: Du bist ein Weichei und kannst nichts aushalten. oder Du siehst Gespenster, wo keine sind.

Wie viele Sinne hat der Mensch? In diesem Blogartikel gehe ich dieser Frage nach.

«Das bildest du dir ein.»

Schade, wenn es geschah, dass ich mich über ein spezielles Erlebnis, eine wertvolle Wahrnehmung oder einen Traum austauschte und zu hören bekam: «Das bildest du dir ein.»

Gut, als Kind hatte ich vielleicht etwas zu viel Fantasie und mein Umfeld konnte damit nicht umgehen. Bedeutete aber auch, dass ich es für mich selbst lernen musste und erst später im Leben wieder Mut fasste, meine Wahrnehmung zu teilen und mich über «spezielle Erlebnisse» auszutauschen.

Kann ich meiner Wahrnehmung wirklich immer vertrauen? Sollte ich das oder kann das auch gefährlich werden? Es gibt sicher Momente und Umstände, in denen ich nicht empfehlen würde, sich unreflektiert von der situativen Wahrnehmung leiten zu lassen (Stichwort Rauschmittel, aussergewöhnlich belastende Situationen).

In Not- oder Spezialsituationen könnte es aber gerade die beste Strategie sein, mich «einfach» von meiner Wahrnehmung leiten zu lassen. Dann meldet sich vielleicht gerade der Lebenssinn, auf den ich im Krisenmoment hören sollte.

Was hat das mit Atemtherapie zu tun?

In der Atemtherapie und bei Atemübungen geht es darum:

  • die eigene Wahrnehmung in diversen Kanälen, v.a. dem Spürsinn, zu schulen und sich bewusst zu machen.
  • Veränderung zu erleben und zu beschreiben.
  • das eigene Atemgeschehen in seiner Qualität und Bedeutsamkeit zu erfahren und davon etwas in den Alltag mitzunehmen.
  • individuell Erlebtes zu formulieren und mit anderen auszutauschen, damit in der Vielfalt von- und miteinander gelernt wird.

Als Atemtherapeutin bin ich Wahrnehmungsspezialistin. In meinem eigenen Erleben und darin, wie ich Menschen dabei begleite, sich selbst wahrzunehmen, um damit Veränderungen zu unterstützen, die sie näher zu sich selbst und ihren Kraftquellen bringen. Ganz konkret heisst das z. B., im Alltag zu spüren, wann eine Pause nötig ist und das passend für sich und in der Lebenssituation umzusetzen.

Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung ist dafür die Grundlage. Der Mensch selbst ist Experte für sein Wohlbefinden und seine Zufriedenheit. Nur ich selbst (und du für dich) kenne das Mass, das Tempo und den Rhythmus, der jetzt angebracht ist. Meine Wahrnehmung ist das Tool, mit dem ich mich schlaumachen kann, darüber. Der Atem dabei das sensibelste und ehrlichste Instrument. Deshalb sage ich dir: Wecke deinen Atemsinn.


Dieser Artikel ist der vierte und letzte Teil einer Serie, die im Rahmen der Blogdekade im Sommer 2023 entstanden ist. Die vorherigen Artikel sind:

Jetzt bis du dran!

Gibt es auch ein Erlebnis, das dir beim Lesen eingefallen ist? Wann in deinem Leben hast du auf deine Wahrnehmung vertrauen können? Wann hast du daran gezweifelt? Teile deine Erfahrungen gerne im Kommentar und denk dran: Jeder und jede ist in der eigenen Erfahrung einzigartig – erst durch den Austausch ist es möglich, andere Erfahrungswelten kennenzulernen.

Das hat dir gefallen? Schick es jetzt jemandem!

  • Liebe Susanne,
    ich war jetzt einfach mal neugierig auf deinen “Meine Wahrnehmung ist richtig!”-Artikel, zweifle ich selbst doch des Öfteren an meiner eigenen.
    Fühle mich mitgenommen und bekräftigt durch deine Gedanken.
    Auch wenn meine Umwelt mir immer wieder spiegelt, dass mein Anderssein hier so gar nicht hinpasst, besser: sie nichts damit anfangen kann, bin ich deshalb nicht automatisch falsch.
    Im Gegenteil, ich darf daran festhalten, wie ich bin.
    Muss mich nicht passend machen, mich runder machen, damit ich nicht anecke.
    Meine Wahrnehmung gilt nur für mich. Und Anderssein tolerieren, ist nun mal keine Einbahnstraße.
    Ich bin und bleibe eine Außenseiterin, aber nicht weil ich falsch bin oder richtig, sondern wertfrei weil ich bin, wie ich eben bin.
    Und das ist vollkommen okay. Sich lassen und die anderen lassen, sich Raum geben und frei durchatmen (um auch dein Thema aufzugreifen) ist Arbeit, aber eine, die sich lohnt.
    Danke für deine Bekräftigung dessen, was ich in mir spüre.
    Gruß Gabi

    • A
      Susanne von Atemhaus Wagner

      Liebe Gabi – oh, das freut mich, konnte ich dich auf meine «Wahrnehmungstour» mitnehmen! Ein Aussenseiter:in-Sein gibt einem ja auch eine spezielle Perspektive auf das Leben (keine Einbahnstrasse!), ich kenne das als «Mehrwert», der dann vom Pulk manchmal angezapft werden will. Es hat mir sehr gutgetan, deinen Kommentar zu lesen und den ganzen Nachhall, den ich noch von den letzten Wochen herumtrage (das Rauschen, das noch nicht aufgehört hat) einfach mitzunehmen ohne ein Label (richtig? Falsch? Was tun?). Verbündete zu finden, macht mir Freude und Hoffnung – danke fürs Teilen deiner Wahrnehmungs-Wahrnehmung. Herzlich, Susanne P.S. Ohne Meta-Ebene wäre ich sowieso schon lange an mir selbst verzweifelt 😉

  • Hallo Susanne,
    das Thema Wahrnehmung hat mich viele Jahre beschäftigt. Aufgewachsen mit Sätzen, ähnlich wie bei dir “sei nicht so empfindlich”, “sei nicht so still”, “sei nicht so euphorisch” – also auch Sätze, die teilweise ganz widersprüchlich waren, plus die für die Wahrnehmung verstörenden Grenzübertritte durch Gewalterleben, all das hat dazu geführt, dass ich sehr lange der eigenen Wahrnehmung misstraut habe. In Therapien habe ich dann mühsam erlernt, meine Wahrnehmung als für mich richtig anzuerkennen. Wenn in der Zeit jemand meine Wahrnehmung angezweifelt hat, habe ich mitunter richtig aggressiv reagiert. Ich wollte sie mir nicht wieder nehmen lassen.
    Das was Du in Deinem Artikel beschreibst, die Wahrnehmung des Atems, ich finde, das ist dann schon die hohe Schule der Wahrnehmung. Gleichzeitig kann der Atem aber auch die Basis sein. Denn wenn ich wenig Vertrauen in meine Sinneswahrnehmung habe, der Atem ist ja immer da, begleitet mich in jeder Sekunde.
    Danke für diese Erinnerung 😊

    • A
      Susanne von Atemhaus Wagner

      Liebe Sylvia!
      Gut, dass du dir das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung nicht wieder nehmen lässt – und es freut mich, wenn dein Atem dir als guter Begleiter immer wieder die Basis dafür geben kann, auf deine Wahrnehmung zu vertrauen. Vielen Dank fürs Teilen deiner Erfahrungen und deiner Wahrnehmung – herzlich, Susanne

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