Susanne Wagner
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Mikropausen⏳Advent

Gähnen und Selbstwahrnehmung

Gähnen und Selbstwahrnehmung

Gähnen willkommen heissen bedeutet, ja sagen zu Veränderung. Was kann ich vom Gähnen lernen und wie kann ich lernen zu gähnen? Wie kann ich im Alltag das bewusste Erleben von Gähnen und damit meine persönliche Atemkraft für mein Selbstbewusstsein und meine Selbst(er)kenntnis nutzen? Grauenhaft oder lustig? Bereits 200 Personen haben an der Umfrage zum Gähnen teilgenommen und ihre Gähnerlebnisse geteilt.

Ich gähne, also bin ich

Plötzlich muss ich gähnen – Diesmal ist das Gähnen, das «von innen» kommt Gegenstand des Newsletters. Gemäss Walusinski (2018) ist Gähnen ein typisches Beispiel eines Verhaltens, das «rezykliert» wurde im Laufe der Evolution.

Die wachsende Komplexität der sozialen Interaktionen führte zu einer Weiterentwicklung des Nervensystems und das Gähnen bekam immer wieder neue Aufgaben. 

Im Grunde sind es zwei Gegenpole, unter denen Walusinski die diversen Funktionen des Gähnens zusammenfasst. Das Gähnen kommt entweder als körperliches Signal von innen oder entsteht aus einem kommunikativen Impuls von aussen.

Gähnen von aussen

In «Gähnen und Empathie» ging es um dieses Gähnens «von aussen», besonders darum, wie es mit Empathiefähigkeit in Zusammenhang gebracht wird, wenn man sich leicht mit Gähnen anstecken lässt. Das Gähnen, das von aussen angeregt wird, ist mit sozialer Interaktion, Stresssituationen oder Sexualität gekoppelt, dabei wird unbewusst das Verhalten des Gegenübers imitiert.

Es kann jedoch nicht das Gähnen aus physiologischen Gründen mit nicht-sozialen und das kommunikative Gähnen mit sozialen Umständen gleichgesetzt werden! Gähnen kann auch als synchrones Verhalten auftreten (eine ganze Gruppe gähnt, aber nicht aus Ansteckung sondern z.B. auf den Schlaf-Wach-Rhythmus bezogen, in welchem die einzelnen Individuen der Gruppe synchronisiert sein können).

Gähnen von innen

Kommt das Gähnen von innen, zeigt es ein regulatorischen Bedürfnis unseres Körpers: Säugetiere folgen bei Übergängen von einem Verhalten oder einer Aktivität zur anderen einem inneren Impuls, der vom Hypothalamus gesteuert wird (auch verantwortlich für das Stoffwechselgleichgewicht) und gähnen dabei.

Was kann mir also ein Gähnen über meinen eigenen, momentanen Zustand oder eine Veränderung desselben verraten? Was kann ich persönlich vom Gähnen lernen, wenn ich in meinen Gähn-Momenten besonders aufmerksam in mich hineinlausche?

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Plötzlich muss ich gähnen – kommt das nun von innen oder von aussen? Wenn es von innen kommt, was will mein Selbst mir sagen?

Wo wird der «Gähn-jetzt-mal-Button» gedrückt?

Wo in unserem Gehirn wird Gähnen ausgelöst und gesteuert? Welche Gehirnanteile haben wann eine Schalthoheit? Gähnen als instinktive Reaktion, das emotionsbezoge Gähnen oder das Unterdrücken bzw. kontrollierte Erlauben von Gähnen … Ist es möglich, diese Abläufe ins Bewusstsein zu holen und als Ressource zu nutzen, indem durch Gähnen Gehirnareale gezielt angeregt werden?

Cubasch (2016) beschreibt in «Gähnen – der natürliche Weg zu Entspannung und Wohlbefinden», wie wir in Bezug auf das Gähnen verschaltet sind: Das Gähnen von innen (spontanes Gähnen) wird im ältesten Teil unseres Gehirns ausgelöst – im Stammhirn, wo auch unsere Instinkte und Reflexe beheimatet sind.

Dieses Gehirnareal wird auch als Reptilienhirn (The Reptilian Brain) bezeichnet.  Wenn wir morgens im Übergang von Schlaf- zu Wachzustand gähnen, wird dies vom Reptilienhirn gesteuert. Diese Art von Gähnen ist wichtig für unsere inneren Rhythmen, für Übergänge zwischen Zuständen und Aktivitäten, die körperliche Regulierungmechanismen erfordern.

Wenn ich dem Gähnen, das von innen kommt, Aufmerksamkeit schenken kann, bringt mich das mit meinen individuellen Rhythmen und meinen physiologischen Bedürfnissen in Kontakt.

Im etwas jüngeren Teil, dem Zwischenhirn (The Mammalian Brain), wird die Art von Gähnen gesteuert, die uns zur Reguliereung von Erregung und Emotionen dient. Hier sitzt die Amygdala (Mandelkern), die zuständig ist für Angst und Wut und uns bei der Einschätzung hilft, ob jemand freundlich oder feindlich auf uns zukommt.

Auch im Zwischenhirn beheimatet ist der Nucleus accumbens, der unser Belohnungszentrum enthält. Hier entstehen Gefühle der Zufriedenheit, der Lust und des Glücks.

Gähnen kann sich also auch unterstützend auf den Umgang mit meiner Gefühlswelt auswirken und mir in Situationen der Verunsicherung oder Erregung einen innerlichen Halt geben oder sogar Glückshormone ausschütten helfen. (Siehe auch: Gähnen gegen Ärger)

Das Grosshirns (The New Brain) ist Sitz der Fähigkeit des Menschen, sich selbst bewusst zu sein. Hier liegen die Vernetzungen und Strukturen, die uns ein Planen, Bewerten und Kontrollieren auch von Bedürfnissen – also von Impulsen aus den beiden anderen Gehirnregionen – ermöglichen.

«Im Grosshirn können wir auch den Entschluss fassen, willkürlich zu Gähnen – selbst dann, wenn wir gelernt haben, es normalerweise zu unterdrücken.» (Cubasch 2016: S. 47) Mit meinem Neusäugergehirn bin ich Herrin über mein Gähnen. Wenn ich es brauche, kann ich es mir holen.

Gähnen Selbstwahrnehmung: Gehirn: Bild der 3 Areale

Quelle: https://www.zeroseven.com.au/Blog/2018/March/Design-for-the-Brain

Wenn es mir unangebracht erscheint in einer Situation, kann ich es so verändern, dass für mich keine sozialen Konsequenzen haben muss (z.B. Nasengähnen anstatt freies, offenes Gähnen).

Wer entscheidet, ob ich gähne oder nicht?

Das Gähnen kommt also aus verschiedenen Arealen unseres Gehirns und ist in komplexen Mechanismen einerseits unserem Willen untertan und gleichzeitig eben gerade nicht. Gähnen ist eine Form von Atmen – auch den Atem können wir willentlich führen, holen, ausstossen, usw. Oder wir können uns dem natürlichen Atem zuwenden, zu Beobachterinnen und Beobachtern werden in Bezug auf unser Atemgeschehen.

So teilt mir mein Atem mit, in was für einer Lage ich mich gerade befinde – bin ich verängstigt und bedrückt unterwegs zu einem schwierigen Gespräch oder freudig aufatmend oben auf dem Berg angekommen? Das Atemgeschehen bringt mich in Kontakt mit mir selbst – warum nicht auch Botschaften meines «Gähngeschehens» berücksichtigen?

Wilhelm Schmid erklärt in «Mit sich selbst befreundet sein» treffend, dass unser Selbst an die Atmung gebunden ist. So denn auch unsere Selbstwahrnehmung, unser Selbstbewusstsein und Selbstkenntnis. Wie gestalte ich diesen Kontakt zu mir selbst? Bin ich mir eine gute Freundin? Wie gehe ich um mit der mich durchströmenden Kraft, meinem Lebenshauch?

All das unwillkürliche Dehnen und Strecken, das morgens nach dem Aufstehen, tagsüber als Reaktion auf Bewegungsmangel vollzogen wird, stellt bereits eine Übung zur Weitung und Vertiefung des Atmens dar. Eine Übung selbsttätig jedes Gehen, jedes Luftholen im Aufseufzen, das dem Selbst keine andere Möglichkeit mehr übrig lässt, als Atem zu schöpfen, vielleicht um etwas zu bewältigen, das verschwiegen bleibt, aber der Kraft bedarf (Schmid 2004: S. 210)

Das Atmen, besonders das Atmen, dem Aufmerksamkeit eingeräumt wird, hilft uns also bei der Bewältigung von Übergängen und wird zu einer Kraftquelle und zum Tor zu Ressourcen. Das Gähnen bleibt hier von Schmid aber unerwähnt – dabei könnte es die direkteste, untrüglichste und am häufigstens bewusst erfahrene Botschaft des Selbst sein, die der Atem jeder und jedem von uns täglich unentwegt schickt.

Tipps

Ja sagen zum Gähnen bedeutet, Ja sagen zum Erleben von Veränderung. Ja zum Leben im eigenen Rhythmus aus der Begegnung mit sich selbst. Reizt es mich, auszuprobieren, was ich erlebe, wenn ich das Gähnen als Botschaft aus mir selbst willkommen heisse?

Vom Gähnen lernen

Jedes Gähnen gibt mir die Möglichkeit, meine Aufmerksamkeit nach innen zu richten, zu mir selbst, und mich zu fragen, wie es mir gerade geht. Was will das Gähnen mir sagen?

In welchem Übergang befinde ich mich, worin kann es mich unterstützen? Beim Wachwerden oder beim Schlafen gehen? Oder mitten am Tag: Brauche ich vielleicht eine Pause? Etwas Bewegung? Ein Nickerchen? Was kann ich mir in diesem Moment Gutes tun?

Das Gähnen von innen bringt mich in Kontakt mit meinen Rhythmen, mit meinem Erleben von Übergängen und damit zu meinem Lebensfluss. Bin ich ständig «online» und auf Draht? Gönne ich mir Pausen?

Fühle ich mich schlapp und lustlos oder bin ich gespannt und aufgeweckt, was als nächstes passieren wird in meinem Leben? Ist der Kontakt zu mir selbst eine Freude oder eine anstrengende Angelegenheit? Kann ich meine Stimmungen, Befindlichkeiten und Bedürfnisse wahrnehmen und freundlich sein zu mir selbst?

All das kann ich im Gähnen neu erfahren. Gähne ich am Morgen – ja, es gibt mir die Unterstützung um wach zu werden und  in den Tag zu starten. Gähne ich am Abend – ja, es ist Zeit, den Computer abzuschalten und die «ich gehe nun langsam schlafen»-Rituale zu beginnen, damit ich mich vom Schlaf ruhig in den Arm nehmen lassen kann. Bin ich hungrig? Gelangweilt? Verärgert? Ungeduldig? Lustlos? Auch all das und noch viel mehr könnte ein Gähnen mir sagen wollen.

Lernen zu Gähnen

Kaum will ein Gähnen kommen, schaltet sich unser Grosshirn ein und reguliert unser Verhalten – ist offenes, freies Gähnen gerade jetzt erlaubt? Anständig? Was für ein Signal sende ich, wenn ich jetzt offen gähne? Welche Konsequenzen könnte dies haben?

Ein solcher oder ähnlicher Mechanismus ist in uns allen abgespeichert und läuft ab, ohne dass wir darüber nachdenken – deshalb ist das Gähnen oft nicht willkommen. Es wird höflich unterdrückt oder leicht beschämt versucht, möglichst unauffällig zu gähnen. Wer im Beisein anderer offen und frei gähnt, kann ich einen Erklärungsnotstand geraten – bist du müde? Ist dir langweilig? Hast du keinen Anstand?

Um mir selbst im Gähnen achtsam, freundlich und neugierig zu begegnen, schärfe ich meine Sinne. Ich stelle mir Raum zur Verfügung für das Gähnerlebnis und gebe mich ihm hin. Ich lasse geschehen und beobachte, was es mit mir macht. Wie blicken nachher die Augen in die Welt?

Rauscht das Gähnen noch in meinen Ohren? Klingt die Weite noch nach? Wie hat mich das Gähnen bewegt und wie bewegt es mich noch immer? Und wie geht es nun weiter? Was ist Jetzt neu geworden in der Begegnung mit mir selbst?

Umfrage (abgeschlossen Juni 2019)

Bereits 200 Personen haben den Fragebogen ausgefüllt. Einige finden es spannend und es weckt ihre Neugierde. Andere haben bereits auf den ersten Seiten den Absprung gewählt. Wieder andere finde die Umfrage grundsätzlich grauenhaft, haben aber trotzdem tapfer bis zum Ende des Fragebogens durchgehalten! Allen herzlichen Dank!

Hier einige Antworten aus den freiwilligen Bemerkungen, die zeigen, wie unterschiedlich Gähnen wahrgenommen wird und wirkt: Nach einem zugelassenen Gähnen fühlen sich die einen entspannt oder müde, die andern wacher und aufmerksamer und mehr in der Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Nach einem unterdrückten Gähnen beobachtet jemand, dass «es dann doch meist noch raus will». Andere fühlen sich nach einem unterdrückten Gähnen belebt, entspannt, müde oder zufrieden. Es wird auch beobachtet, dass keine Veränderung wahrnehmbar ist nach einem Gähnen.

Vielleicht hat das Gähnen ja gerade eine solche so reguliert, dass sie einem körperlich oder seelisch nicht auffällt?

Gähnen polarisiert!

Die Umfrageteilnehmer beobachten: Ist man alleine, kann man frei und ungehemmt gähnen, da niemand das Gähnen interpretiert (z.B. als Desinteresse). Das Geschehenlassen des Gähnens wirkt befreiend, vertieft den Atem und tut einfach gut.

Das freie Gähnen kommt tief von unten und bringt Entspannung, Erleichterung, Erlösung und Anregung. Das Gähnen lenkt die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper (z.B. weg vom Bildschirm) und weg vom Grübeln. Das Gähnen teilt mir selbst etwas mit, was schon lange nötig gewesen wäre.

Mich erstaunt es nicht, dass die Rückmeldungen so auseinanderklaffen – das Erleben von Gähnen liegt nicht nur ohnehin in der persönlichen Wahrnehmung und betrifft den eigenen «inneren Abgrund», sondern es polarisiert auch in der Begegnung mit der Aussenwelt.  

Was denkst du darüber? Wie erlebst du das? Teile in einem Kommentar deine Ansichten und Erfahrungen mit der hier entstehenden Gähn-Community. (Kommentar verfassen: Eingabe am Artikelende)

Dieser Artikel erschien erstmals 2019 in der Reihe «Newsletter zum Gähnen» mit Themen rund ums Gähnen, die von Andrew New­bergs Liste «12 wichtige Gründe zu gäh­nen» in «Der Fingerabdruck Gottes» inspiriert waren.

Teile mit uns, was dir gerade durch den Kopf geht.

Wenn du bis jetzt noch nicht gegähnt hast, lies hier weiter: